Die Unterschiede

Dienstag, 12. Oktober 2010

Die Ordnung der gelesenen Dinge

1. Im Hugendubel Kurfürstendamm ist seit einiger Zeit der dritte Stock fast leer. Sie haben nur den Service sowie Film und Kunst dort belassen und den Rest in den zweiten und ersten Stock verräumt; das Erdgeschoß ist wie immer bei Hugendubel dem Ramsch vorbehalten. Für eine Buchhandlung, deren Angestellten stets nur beauskunften, wo dieses oder jenes Buch stehen müßte, wenn es denn eventuell da wäre, fände ich eine derartige Optimierung bemerkenswert - also wenn das Management herausgefunden hätte, dass Drittstockbücher (Verwaltungsverfahrensgesetz, Evangelisches Gesangbuch, Technische Physik für Elektroingenieure) nicht so gut gehen und deshalb das menschliche Wissen zukünftig nur bis zum zweiten Stockwerk reicht. Wahrscheinlicher ist allerdings die Vermutung, das Gesamtsortiment gestrafft wurde, ein halber Meter Lyrik weniger, die Manesses zweireihig, die Philosophie ein wenig auskämmen, und schon paßt der Zweistöcker.

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Der Babywickelraum befindet sich im 2. Obergeschoss

2. Es gibt einige Institutionen der Universalität, die die bis zu einem bestimmten Grad, ihrer jeweiligen Reichweite, die Welt als Ganzes beschreiben und nicht nur einen engen und beschnittenen Ausschnitt. Dazu zählen etwa das Lexikon, das Branchentelefonbuch, das Kaufhaus und auf eine ganz eigenartige Weise auch der Buchladen. In ihm sind nicht die Dinge selbst vorhanden (wie im Kaufhaus), nicht die mit den Dingen beschäftigen Firmen (Branchenbuch), sondern mit all seinen Büchern die Beschreibungen der Dinge. Ein Buchladen ist ein begehbares Lexikon, doch jeder Artikel ist wieder ein eigenes Buch. Deshalb ist es besonders interessant, wie ein Buchladen sortiert ist – im Gegensatz zur Bibliothek wird seine Ordnung nicht durch einen überkommenen bibliographischen Kanon bestimmt, sondern danach, was verkauft wird. Eine Buchhandlung enthält damit nicht nur die Beschreibungen der Welt, sondern auch ihre Ordnung.

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Das "Lexikon des Unwissens" finden Sie unter "Wissen"

3. Zumindest die Ordnung der Leser und des Gelesenen, und das durchaus mit Variationsmöglichkeiten. Die Buchhandlung Marga Schoeller in der Berliner Knesebeckstraße sortiert ihre Belletristik nach „Aus dem Russischen“, „Aus dem Englischen“ etc. Das ist ein kleines Kompliment an den Kunden, der natürlich weiß, in welcher Sprache sein Nabokov geschrieben hat. Die größte und augenfälligste Unterscheidung in jeder Buchhandlung jedoch liegt zwischen Belletristik und Sachbuch, zwischem dem Erfundenen und Vorhandenen, eine für uns selbstverständliche wie doch bemerkenswerte Unterscheidung. In der erwachsenen Belletristik finden wir dann folgende Abteilungen, die ich einfach mal nur aufzähle, ohne daran herumzudeuten:
a. Das Verbotene und das Verbrechen (Krimi)
b. Das in der Zukunft vielleicht Mögliche (Science Fiction)
c. Das in der Vergangenheit vielleicht möglich Gewesene, für Frauen (Historische Romane)
d. Das bestimmt Unmögliche, und mit seltsamen Wesen und Vampiren (Fantasy)
e. Bücher von Stephen King und seinen Freunden (Horror)
f. Das Gereimte (Lyrik)
g. Alles andere, also ungereimt heute Mögliches ohne zu viel Verbrecherisches (Romane)

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Das innere Kind, Narzißmus und Schizophrenie

4. Die Konjunkturen und Moden der Belletristik (Manga, Vampire etc.) finden sich auch bei den Sachbüchern, denen eigentümlich ist, noch wesentlich tiefer und genauer gegliedert zu werden. So scheint jede Geheimlehre und jeder Hokuspokus, den sich die Elben, Elfen, Hexen, Kobolde und der Fantasyabteilung jemals ausgedacht haben, in der Esoterikabteilung ein eigenes kleines Fach zu haben. Die kräuterfreie, aber testosterongesättigte Esoterik der Managementliteratur steht zur besseren Unterscheidung in der entgegengesetzten Ecke. Dazwischen, in der populären Psychologie, findet man die Ratgeber entlang des Lebenslaufes, während der Schwangerschaft, bei der Geburt unter und über Wasser, bei der aufmerksamkeitsdefizitiären Kindheit, der Partnerwahl, beim Glück mit ihm und ihr oder Unglück ohne ihn und ohne sie, vom ersten grauen Haar bis zur Feuerbestattung. Dahinter, daneben, davor alles, was man sich von der Astrophysik, dem Trennkost, derm Verwaltungsverfahrensgesetz, der organischen Chemie, der Fahrradreparatur jemals zu wissen wünschen könnte, alles in einer geheimen und doch offenbaren Ordnung.

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Gedächtnisbild. Links: Turm zu Babel (im Bau)

5. Das alles paßt beim Hugendubel mittlerweile auf die ersten beiden Stockwerke. Und vom dritten Stock aus, zwischen den Kunstbüchern, die auf den Regalen stehen wie die stillen, schönen Schwestern früherer Freunde, da hat man einen ganz ausgezeichneten Blick auf die Gedächtniskirche.

Dienstag, 8. September 2009

Es ist groß oder klein, gut oder schlecht, oder anders

Im Norden Neuguineas liegt die Provinz Ost-Sepik, von der bislang kaum jemand irgendetwas gehört hat. Im unzugänglichen Süden dieser Provinz, im tiefsten Regenwald, hinter allen sieben Bergen, da lebt ein kleines Volk, das gerade einmal 300 Köpfe zählt. Dieses Volk spricht Yimas. Diese Sprache zeichnet sich dadurch aus, daß sie gerade einmal fünf Adjektive hat. Diese sind kpa (groß), waca (klein), yua (gut), mama (schlecht) und ma (andere). Yimatische Werbung muß also auf „erlesene Materialien“ und „exklusive Vorteile“ verzichten. Ihren Weinkritiken fehlen „verspielte Nasen“ und „seidige Säurenerven“, und ihre Autotester berichten niemals über einen „facegelifteten Mercedes“ mit „markantem Motorengeräusch“. Ihr Wein ist entweder yua oder mama, und ihre Autos sind kpa oder waca.

Eine Frage ist, ob die Yimaesen zu beneiden oder zu bemitleiden sind. Immerhin kennen sie nicht die Verlegenheit, das gute kleine Wort zu finden, das genau an diese Stelle passt. Möglicherweise ist es auf der anderen Seite schwierig, in dieser Sprache die feinen Unterschiede auszuleuchten. Aber ist es überhaupt ein Zeichen höherer Kultur, wenn eine Sprache sich einen riesigen Zoo voller Adjektive hält? Wenn diese Kultur ein Wort für ein malapropistisches Wort kennt, aber ihre Jugend im täglichen Sprachgebrauch sogar nur mit zwei Adjektiven(geil/ungeil) auskommt? Ich werde jedenfalls meine Adjektive zukünftig einmal zählen und numerieren, wenn ich es nicht vergesse. Ich schätze, daß ich mit 50 locker auskomme, und daß ich für mein 100. Adjektiv schon in den Keller muß, um es aus dem Regal mit dem Eingekochten hochzuholen.

Vielleicht ist es ja auch so, daß die Yimantiner den Ethnologen bei der Spracherhebung einfach verarscht haben („Alle Adjektive will er wissen? Der dicklichblassmundriechende Typ spinnt ja wohl. Aber warte mal...“) Oder daß der Gebrauch von Adjektiven nach Wochentagen oder Jahreszeiten geregelt und verschieden ist. Im Winter habe ich auch, wie die Eskimos, 30 verschiedene Wörter für Schnee und kalt, aber im Sommer kenne ich 30 Ausdrücke für Mit-einem-kalten-Bier-im-warmen-Biergarten-sitzen.

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Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

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