Selbsterlebtes

Samstag, 12. Dezember 2009

Inhaltsstoffteleskopie

Die letzte Niederlage gegen den Tod ist nur selten plötzlich und schnell. Meistens bleibt es ein zäher und grausamer Abwehrkampf. Klar ist nur: wir werden ihn verlieren. Unbekannt bleibt aber: wann. Keinen Zentimeter geben wir freiwillig her. Häufig schlagen wir Angriffe erfolgreich zurück. Wir hören mit dem Rauchen auf. Wir fangen mit dem Laufen an. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen wir die Front rasch begradigen müssen. Das sind die kleinen Niederlagen gegen Alter und Verfall.

Einer dieser Niederlagen wird man irgendwann an einer Supermarktkasse einstecken. Es ist der Moment, wenn man der Kassiererin erstmals das Kleingeldheraussuchen aus der Börse gestattet. Oder, noch entsetzlicher, dafür das ganze Kleingeld auf das Gummilaufband kippt. Man gesteht sich damit erstens ein, Geld nicht mehr richtig sehen zu können, zweitens, über nicht mehr ausreichend geschickte Finger zu verfügen, ein 2-Cent-Stück zwischen zwei Groschen hervorzufriemeln sowie drittens, zu dement zu sein, 68 Cent in einer Dezimalstückelung zusammenzurechnen.

Erschwerend kommt bei der heutigen Generation der 80jährigen hinzu, daß sie besessen davon sind, ihr stets beträchtliches Kleingeld auf einen Schlag wegzubekommen. Ich weiß nicht, woher sie das haben. Geboren wurden sie um 1930. Hat man ihnen in der HJ oder beim BDM eingeprügelt, das Kleingeld möglichst schnell loszuwerden? Hart wir Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie Windhunde, kleingeldfrei wie ein Schutzengel? Und, vor allem, warum haben sie dann noch immer so viel dabei?

Ich bin heute im Kaisers Markt gewesen. Dort geht man noch einen weiteren Schritt auf unsere älteren Kleingeldanleger zu. An die Einkaufswagen hat man links am Griff eine aufklappbare Lupe geschraubt. Eine Lupe! Nicht genug, an der Vorderseite des Einkaufswagen eine Reklame des Diakonischen Werks für häusliche Pflege lesen zu müssen, sondern Kaisers schraubt Lupen an die Wagen, damit Opa beim Rumkaufen den Pott 40 sicher vom Pott 54 unterscheidet. Ja, ja, ja, es ist immer alles so klein gedruckt auf den Packungen. Leute, ihr sollt da Chips, Bier und Shampoo kaufen. Und nicht auf Packungen lesen, ob Spuren von Nüssen enthalten sind! Nicht zu fassen - Vergrößerungsgläser, um die Inhaltstoffe von Leinsamenpackungen lesen zu können („Inhalt: Leinsamen“).

Mittwoch, 23. September 2009

Geschwister

U-Bahn. Ich denke, es sind Geschwister. Auf den ersten Blick sehen sie sich gar nicht mal ähnlich. Wenn man genauer hinschaut, sieht man, daß sie die gleiche Haut haben, als wären beide aus demselben Stück Stoff geschnitten. Sie erzählt ihm gerade etwas, und er nickt mit der beiläufigen Vertrautheit ihres lebenslangen Zusammenseins. Sie ist vielleicht 15, er ist nicht mehr als eineinhalb Jahre jünger. Sie ist besser angezogen, genauer auf den Punkt hin, denn ihm sieht man an, daß er nur das übergezogen hat, was gerade da gelegen hat. Möglicherweise verstehen sie sich jetzt wieder besser, nachdem er ihr zwei Jahre lang zu kindisch war. Die Frage, ob Geschwister sich auch ähnlich sind, weil sie sich ihre Gesten, Haltungen etc. auch gegenseitig abschauen oder nur weil sie beide Variationen ihrer Eltern sind.

Montag, 14. September 2009

Am Geschmack erkannt

Heute morgen, zum Sonnenaufgang, beobachtete ich, wie ein Pärchen an der Siegessäule Fotos machte. Sie hatten sich in einer Ecke an der Straße des 17. Juni aufgestellt. Sie posierte an einem Laternenmast, er kniete vor ihr und fotografierte. Sie trug nichts als einen schwarzen Ledermantel, darunter ein paar rote Dessous. Sie streckte die Arme nach hinten um die Laterne, das Knie nach vorne und guckte nach oben. Ich dachte daran, welche ästhetischen oder erotischen Maßstäbe diese Leute so haben. Das alles sah so erbärmlich und scheiße aus. Und was machen sie denn nachher mit den Fotos?

Ich stelle mir vor: Reinickendorf, Vorortsiedlung, später Nachmittag. Vor dem Haus steht ein alter Ford Scorpio, in Rotweincreme-Metallic. Ein Partykeller mit einem Kutschenrad, das als Lampenträger unter der Decke hängt. Es riecht nach lauwarmen Schultheiss und alter Couch mit braunem Cordbezug und Weinbrandflecken, auch nach Haustier, und zwar nach einem Cockerspaniel, der aber schon seit zwei Jahren blind ist. Als Musik hört man im Hintergrund ein Country-Album von Juliane Werding. Er hat eine Aufziehleinwand in der Ecke aufgestellt, den Diaprojektor auf die Theke gestellt und klickt mit der Fernbedienung probeweise die Dias durch. „Berlin – Erotische Impressionen“ hat er es genannt. Super, daß Carola es so toll durchgezogen hat.

Der Cockerspaniel heißt Kessy.

Dienstag, 8. September 2009

Tiergartenfuchs

Gestern morgen ist mir im Tiergarten ein Fuchs begegnet. Ich lief gerade an der Stelle vorbei, an der Karl Liebknecht nicht erschossen wurde, als er von links meinen geraden Weg kreuzte. Wir schraken beide zusammen und blieben mitten auf dem Parkweg stehen. Er blickte mich an. Ich blickte ihn an. Er senkte leicht den Kopf. Ich auch. Er überprüfte, ob ich zu jagen oder essen sei (nein), und ich ihn, ob er eventuell ein Capuccino mit einem süßen Brötchen war (auch nicht). Bei seiner zweiten Musterung schaute er, ob ich ein gefährlicher Jäger im grünen Rock mit einer großen Flinte sein könnte. Ich wiederum prüfte, ob er nicht ein übergewichtiger Perverser mit strähnigem Haar und einem Teppichmesser in der Hintertasche seiner billigen Jeans war. Nachdem wir uns beide auf diese Weise versichert hatten, daß wir gegenseitig weder Beute noch Gefahr waren, wandte er sich ab und lief, ohne jede Hast, in das Gebüsch zur Seite weg, in jener elastischen Eleganz und Würde, die unter anderem den Fuchs vom Hund trennt. Ich stolperte schwitzend geradeaus weiter.

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